Ohne 1968 gäbe es in Deutschland heute keine sexuelle Freiheit und keine reproduktiven Rechte. Doch wer wird bei dieser Geschichte ausgelassen – und wie können wir das ändern?
Intro: Peggy Piesche
Protokoll: Valerie-Siba Rousparast
Das Gedenken an das Jahr 1968 hat gerade erst begonnen, 2018 stehen zahlreiche öffentliche und Fachkonferenzen auf dem Plan. Allerdings sind diese meist mit Akteur*innen besetzt, die auch schon vor fünfzig Jahren den Diskurs in Deutschland prägten: Sie sind überwiegend weiß, männlich, westdeutsch, westeuropäisch. Sie ließen sich maßgeblich von internationalen Bürgerrechts- und Befreiungsbewegungen von Schwarzen Menschen und People of Color inspirieren. Im gegenwärtigen Erinnerungskonstrukt von „68“ treten Letztere jedoch nur als Nebenfiguren im Zusammenhang mit westlich geprägter antikapitalistischer und linker Bewegungsgeschichte in Erscheinung.
Ebenso wirkt der Diskurs der „sexuellen Revolution“ der „68er“ nach: Wenn wir heute über sexuelle Selbstbestimmung und reproduktive Rechte debattieren – wie derzeit im Zuge des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche –, fragen wir beispielsweise kaum nach den Zugangsmöglichkeiten für geflüchtete Frauen in Unterkünften. Doch was bedeutet eine intersektional ausgerichtete Solidarisierung im Kampf um sexuelle Selbstbestimmung und reproduktive Rechte im Hinblick auf das Erbe von 1968? „68“ zu verstehen, es auf seine kolonialen Kontinuitäten hin abzuklopfen und daraus zu lernen, heißt auch, heutige Debatten zusammenzuführen und politisch voranzutreiben. Reproduktive Rechte mit Armut, Klimawandel und Bevölkerungspolitik zusammenzudenken ist eine wichtige Aufgabe. Auch im intersektionalen Feminismus, der den Stimmen, die schon damals aus der dominanten Geschichtsschreibung herausfielen, Gehör verschaffen will. Nur so kann der Diskurs zu reproduktiver Gerechtigkeit beitragen, die das Wissen über, das Recht auf und den Zugang zu Verhütung und Abtreibung sowie das Recht auf und den Schutz von Schwangerschaft und Elternschaft für alle Frauen umfasst. Diese bislang lückenhafte Geschichtsschreibung korrigieren im Folgenden drei Expertinnen.
Melody Makeda Ledwon: „Der Begriff ‚Reproductive Justice‘ ist ein intersektionaler Ansatz, der die ‚Pro Choice‘-Haltung weiterdenkt.“
Als ich im Februar 2011 auf dem Weg von der Arbeit nach Hause durch den Stadtteil Soho in New York City lief und zum Himmel aufblickte, sah ich plötzlich ein riesiges Werbeplakat. Auf diesem war ein Schwarzes Kind im pinken Sommerkleid und mit einer kleinen weißen Schleife in ihrem Twist-out ‘Fro abgebildet, dessen Blick bestimmt, aber nachdenklich war. Über dem Bild stand in großen Blockbuchstaben: „The most dangerous place for an African-American is in the womb“ („Der gefährlichste Ort für eine*n Afroamerikaner*in ist die Gebärmutter“). Ich war verwirrt, geschockt und wütend darüber, dass die Anti-Abtreibungsorganisation Life Always in ihrer Kampagne Schwarze Frauen* als Hauptgefährdung unserer eigenen Kinder identifizierte, um sich gegen Abtreibung auszusprechen. Die eigentlichen Gefahren im Leben Schwarzer Kinder wie Polizeigewalt, Alltagsrassismus, fehlende und falsche Repräsentation Schwarzer Menschen wurden in den Medien ignoriert. Einige Monate zuvor hatte ich durch Zufall die New York Coalition for Reproductive Justice entdeckt, ein Netzwerk von hauptsächlich Schwarzen und PoC Frauen, die sich an der Schnittstelle von reproduktiven Rechten und struktureller Mehrfachdiskriminierung engagierten. Motiviert von der besonderen Wut, die das Leben Schwarzer Frauen immer begleitet, machte ich mich auf zu meinem ersten Netzwerktreffen, wo ich im Austausch mit Aktivist*innen mehr über die Reproductive-Justice-Bewegung erfuhr.
Der Begriff „Reproductive Justice“, erstmals 1994 in Kairo auf der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung von Schwarzen, Indigenen und Frauen of Color geprägt und von Schwarzen Frauen als Konzept entwickelt, ist ein intersektionaler Ansatz, der die „Pro Choice“-Haltung weiterdenkt. In den frühen 1970er-Jahren kämpfte die Frauenbewegung in Deutschland für die Streichung des § 218, der einen Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt. Eine wichtige Errungenschaft der Bewegung war die Fristenregelung, die eine Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei macht. Weiße, ableisierte, hetero cis Frauen definierten daraufhin jedoch reproduktive Selbstbestimmung ausschließlich als das Recht auf Abtreibung („Pro Choice“). Die Perspektiven Schwarzer Menschen, People of Color, Queers und Menschen mit Behinderung auf das Thema, die sich aus den Erfahrungen mit Mehrfachdiskriminierung speisten, wurden hingegen ausgeblendet. Denn neben der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen prägen auch Zwangsabtreibung, -verhütung und -sterilisation, Familientrennung und Einschränkungen bei der Familiengründung die Realitäten dieser Menschen.
Die Reproductive-Justice-Bewegung ist intersektional und erweitert und vertieft die „Pro-Choice“-Haltung. Sie setzt sich auf der Grundlage der historischen Realitäten derjenigen, die an den Schnittstellen unterschiedlicher Identitäten leben, für folgende Rechte ein: das Recht, schwanger zu werden, ein Kind zu gebären und Entscheidungen über Entbindungsmöglichkeiten zu treffen, das Recht, eine Schwangerschaft zu verhindern oder abzubrechen und das Recht, Kinder frei von Angst und Gewalt großzuziehen. Durch Reproductive-Justice-Aktivismus werden beispielsweise die Erfahrungen einer schwangeren Schwarzen Frau, die mit ihren Kindern von Abschiebung bedroht in Deutschland lebt, überhaupt sichtbar. Die Stärkung ihrer reproduktiven Rechte ist möglich, wenn ihre Bedürfnisse erkannt und gemeinsam mit ihr Strategien gegen ihre Abschiebung und eine mögliche Familientrennung entwickelt werden können.
Diejenigen von uns, die sich für reproduktive Rechte und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper starkmachen, sind gefordert, die deutsche Geschichte und Gegenwart der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, aber auch von Schwangerschaft und Familiengründung und den Missbrauch an Körpern immer wieder kritisch zu beleuchten und diese auch im Kontext bevölkerungspolitischer Interessen des deutschen Nationalstaats zu begreifen. Daraus folgt, dass wir über die Abschaffung von § 218 (und § 219a) hinaus denken müssen und uns an der Arbeit von Organisationen und Netzwerken Schwarzer, People of Color, queerer und behinderter Aktivist*innen wie beispielsweise International Women’s Space oder der International Women*s Struggle Demo orientieren.
Melody Makeda Ledwon ist Sexualpädagogin, Dolmetscherin, Übersetzerin und Yoga-Lehrerin. In Berlin und New York lebt und arbeitet sie an den Schnittstellen von Schwarzem Feminismus, afrodiasporischer Geschichte und Kultur, Selbstfürsorge, Heilung und sexueller Selbstbestimmung.
Maureen Maisha Auma: „Einen lebenswerten Raum für Schwarze Frauen zu gestalten schloss für mich von Beginn an Selbstverteidigung mit ein.“
Meine ersten Erfahrungen mit Sexualaufklärung im Alter von neun oder zehn Jahren waren eher beklemmend. Ich habe mir Informationen über Sexualität mithilfe von Zeitschriften, die ich eigentlich noch gar nicht lesen durfte, selbst organisiert. Meinen Fragen an Erwachsene in meiner Umgebung wurde mit Zögern und Ausweichen begegnet. Ich hätte mir mehr Offenheit und Entspannung gewünscht!
Ich denke, mein sexualpädagogisches Interesse geht auf diese Erfahrungen von „multilayered silences“, also „vielschichtigem Schweigen“, aber auch auf die Neugier auf „Wissenswertes, wofür es noch keine Sprache gibt“, zurück. Auf das berühmte „Alles-anders-machen-Wollen“ mit allen Verkürzungen und Fallen, aber auch mit den kreativen Lösungen, die damit verbunden sind. Im späteren Verlauf meiner Biografie erweiterte sich mein Sexualitätswissen durch Biologiebücher, Sozialkunde- und Konfirmationsunterricht. Gespräche mit Freund*innen darüber waren rar, gehetzt, fragil. Es gab keine Räume dafür, wir sprachen nie wirklich in Ruhe über unsere Sexualitäten.
Mein Blick auf sexuelle Rechte und, für mich ganz wichtig, „sexual pleasure equality“, das Recht aller auf eine wohltuende, selbstbestimmte, lustvolle Gestaltung der eigenen körperlichen, emotionalen und sozialen Ressourcen, ist sehr am Zugang zu Wissen über Sexualität orientiert. Als junge Studentin schloss ich mich feministischen und rassismuskritischen Initiativen an. Ich war 19, als ich schließlich in der Schwarzen feministischen Selbstorganisation Adefra – Schwarze Frauen in Deutschland aktiv wurde. Einen lebenswerten Raum für Schwarze Frauen zu gestalten schloss für mich von Beginn an Selbstverteidigung gegen sexualisierte Gewalt mit ein. Das war keine abstrakte Entscheidung, sondern ein akuter Antwortversuch, eine Überlebensstrategie, generiert aus meinen Alltagserfahrungen am Schnittpunkt von Rassismus, Sexismus und Rape Culture.
Gleichzeitig wurde für mich im Kollektiv mit anderen politisierten Schwarzen Frauen die Verfügung über unsere eigenen körperlichen, emotionalen und sozialen Ressourcen immer wichtiger. Zum autonomen, konstruktiven Umgang mit unseren reproduktiven Rechten gehört für uns, heteronormative Reproduktionsvorstellungen zu irritieren, zu verschieben und zu öffnen, um Platz für eigensinnige, neue Lösungen zu schaffen. Für uns ist es bedeutend, Reproduktion als Komplex zu dekolonisieren. Das bedeutet, die weißen westlichen Einschreibungen von Reproduktionsdiskursen offenzulegen, um ihre anhaltende Universalisierung als „Modell für alle“ zu irritieren.
Im Nachhinein können wir jetzt gemeinsam die Gestalt unserer Intersectional Black Sexual Politics, unsere Black Queer Politics, unsere gender independent und non-conforming Strategien und Techniken der Selbst- und Community-Bildung erkennen. Diese Wissens-, Aktions- und Vernetzungsformen formulieren wir inzwischen als ein „Sexualpädagogisches Empowerment von, für und mit BPoC“.
Maureen Maisha Auma ist Erziehungswissenschaftlerin und Geschlechterforscherin. Sie ist Professorin an der Hochschule Magdeburg-Stendal und unterrichtet an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1993 ist sie bei Adefra e.V. – Schwarze Frauen in Deutschland aktiv.
Karina Griffith: „Wir müssen das Schweigen in den Geschichten suchen. Die Lücken in den Erzählungen sprechen Bände.“
Die Erzählungen um 1968 werden, insbesondere wenn sie in einem Jubiläumsjahr wie diesem verpackt werden, zu Waren gemacht und konsumiert. Das ist nicht unbedingt eine schlechte Sache – wir müssen unsere Geschichten kennen und Geschichten über uns selbst erzählen, um zu verstehen, wohin wir gehen und woher wir kommen. Wenn wir die Geschichte von 1968 allerdings dekolonialisieren wollen, beinhaltet das nicht nur das Konsumieren dieser Erzählungen, sondern auch die Frage danach, wer sie erzählt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass im Jahr 1968 Aufstände auf der ganzen Welt stattfanden. Im Senegal traten die Student*innen im Mai 1968 in den Streik und boykottierten die Prüfungen. Im Oktober kam es an der Universität der West Indies auf Jamaika zu Protesten, als der guyanische Sozialist Walter Rodney, Autor des postkolonialen Textes „How Europe Underdeveloped Africa“, von seiner Position als Dozent entlassen und aus dem Land verbannt wurde.
Es ist falsch, zu behaupten, dass die Bewegungen in der Karibik oder in Afrika bloße Erweiterungen dessen waren, was in Europa geschah. Es gab auch Schwarze Perspektiven in Deutschland im Jahr 1968 – mit meiner Forschungsarbeit möchte ich diese Stimmen verstärken. Wir müssen aktiv zuhören und das Schweigen in den Geschichten suchen, die uns erzählt werden, denn die Lücken in den Erzählungen sprechen Bände. Wessen Stimmen hören wir nicht? Welche Gruppen sehen wir nicht in den Filmaufnahmen? Welche Perspektiven fehlen im Erzählten?
Wenn ich über reproduktive Rechte nachdenke, denke ich nicht nur an die Souveränität des (cis) weiblichen Körpers, sondern auch an die Erzählerin. Erzählungen sind eine Art der Reproduktion. Die Geschichten, die wir verbreiten, schaffen neues Wissen, neue Ideen und Perspektiven. So wie ein klassischer Film aus einer Reihe von Bildern auf Zelluloid besteht, die mit leichten Abweichungen reproduziert werden und derart ein bewegtes Bild erzeugen, enthalten auch „Oral Histories“ leichte Variationen, je nachdem, wer die Geschichte erzählt und anhört. Wir machen uns selbst etwas vor, wenn wir denken, dass es nur eine Wahrheit gibt. Auf diese Weise ist die Empfängnis, die erste Stufe der Fortpflanzung, eine Art von Kommunikation – sie ist empfänglich für eine Übertragung. Eine Dekolonialisierung von 1968 beinhaltet eine Empfänglichkeit für andere Perspektiven, Beiträge und Einflüsse auf die Proteste und Ergebnisse dieser revolutionären Umbruchszeit.
Karina Griffith ist Künstlerin und Doktorandin am Cinema Studies Institute der University of Toronto, wo sie zu Schwarzer Autor*innenschaft im deutschen Film forscht. 2017 kuratierte sie das Festival „Republik Repair: Ten Points, Ten Demands, One Festival / Reparatory Imaginings from Black Berlin“ am Ballhaus Naunynstraße. Derzeit ist sie als Artist-in-Residence Teil des Projekts „Decolonizing 68“ am District Berlin.